Im vergangenen Jahr wurde in unseren Breitengraden intensiv und offen über Beschneidung diskutiert. Kindswohl, Recht auf Selbstbestimmung und individuelle Freiheit schienen mit archaischer Religion und Fremdbestimmung, mit elterlichem Erziehungsrecht im Konflikt. Nach einfachen Klischees wurden Islam und Judentum wegen der Knabenbeschneidung der Unaufgeklärtheit bezichtigt. Der säkulare Westen und das Christentum erschienen so als Verfechter von Freiheit und Fortschritt. Zum Glück sind die Kirchen nicht auf diese Verlockung hereingefallen. Sie standen offiziell an der Seite von Muslimen und Juden. Die kirchliche Tradition weiss, dass Kinder immer geprägt werden und individuelle Freiheit nicht im selben Mass wie beim Erwachsenen zur Diskussion steht. Die Frage beim Kind ist nicht ob, sondern wodurch es geprägt werden soll. Ich meinerseits ziehe auf jeden Fall eine religiöse Prägung einer Fremdbestimmung durch eine neoliberale Gesellschaft vor. Letztere macht mit ihrem ausbeuterischen Markt auch vor Kindern nicht Halt, und Hochreligionen wie Christentum, Judentum und Islam schenken den Kindern zugleich einen reichen kulturellen Schatz. Dass dieser sich der kritischen Aufklärung unterzieht, ist natürlich wichtig. Nur täte die aufgeklärte Moderne ebenso gut daran, sich kritisch von den Religionen befragen zu lassen.
Doch auch der katholischen Kirche scheint die Knabenbeschneidung in den letzten Jahrzehnten nicht immer geheuer gewesen zu sein. Trotz der neuen Sensibilität für das Judentum hat die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils das Fest der Beschneidung Jesu am 1. Januar abgeschafft. Empfand man die Erinnerung daran, dass Jesus am achten Tag nach der Geburt beschnitten worden ist, als problematisch? Zu archaisch oder zu jüdisch? Jesus durch Beschneidung und Gesetzesfrömmigkeit traumatisiert – wer wollte einem solchen Vorwurf Nahrung geben? So wurde der Neujahrstag in der Kirche zu einem blassen Marienfest und einem Wunsch für den Weltfrieden. Natürlich brauchen wir dringend Frieden. Alle vernünftigen und religiösen Menschen sehnen sich danach. Doch dass dazu Riten wie Beschneidung oder die Verpflichtung auf einen göttlichen Willen beitragen können, wird am Neujahrstag nicht mehr sichtbar. Die Rückbindung der christlichen Botschaft an die jüdische ging verloren. Die Notwendigkeit zum interreligiösen Dialog aus der Tradition selbst wird nicht mehr vernommen. Dabei ist es ein schwacher Trost, wenn das Fest der Namensgebung Jesu – historisch gesehen untrennbar mit der Beschneidung verbunden – wieder eingeführt wurde und nun am 3. Januar begangen wird. Leider ist damit nicht einmal die halbe Wahrheit zurückgewonnen.
Den Kurs zum Thema finden Sie hier: 3. Tag des Judentums